Einzigartigkeit und Vielfalt – die Vermessung der Natur

Forschung im Fokus Oktober 2016

Ein traumhafter Sommertag inmitten einer bunten Wiese: Sich hinlegen und einfach einmal die Seele baumeln lassen. Umgeben von Gräsern, die sich leicht im Wind wiegen, duftenden Blüten und einer Fülle verschiedener Blattpflanzen. Vielleicht krabbelt eine Spinne über den Boden und Hummeln fliegen brummend vorbei auf ihrem Weg zur nächsten Nektarquelle. Diese wilde Blumenwiese ist Heimat von deutlich mehr Pflanzen und Tieren, als ein frisch gemähter Rasen es je sein könnte. Es ist die Biodiversität, die nicht nur Biologen fasziniert, sondern auch Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik IBP. Diese haben sie im Kontext der Ökobilanzierung zu ihrem Forschungsthema gemacht – allen voran Dr.-Ing. Jan Paul Lindner, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Ganzheitliche Bilanzierung. »Die biologische Vielfalt unseres Planeten ist sehr komplex, aber genau das macht sie so spannend«, sagt der Forscher, der vor kurzem seine Doktorarbeit zu dieser Thematik veröffentlichte. Die Erde beherbergt eine Vielzahl verschiedenster Tier- und Pflanzenarten, welche in unterschiedlichen Ökosystemen zuhause sind. Die auch von Deutschland anerkannte Convention on Biological Diversity (CBD) definiert diese Vielfältigkeit in unterschiedliche Kategorien: die genetische Vielfalt, die Artenvielfalt und die Vielfalt der Lebensräume und Ökosysteme. Gemeinsam sind sie die wichtigsten Werte unserer Erde und tragen gegenseitig zu ihrer Erhaltung und Entwicklung bei. Genauso wichtig ist die biologische Vielfalt oder auch Biodiversität für uns Menschen und unsere Lebensqualität. Ob Lebensmittel, Medizin und sogar technische Errungenschaften, vieles kommt aus der Natur oder orientiert sich an ihr. »Kaum quantifizierbar, aber nicht zu unterschätzen sind immaterielle Werte wie die Natur als Inspirationsquelle. Was können wir von ihr lernen oder welche Gefühle vermitteln uns typische Ökosysteme? Lebensräume geben uns ein Heimatgefühl und tragen somit zum psychischen Wohlbefinden von Menschen bei«, erklärt Lindner seinen wissenschaftlichen Ansatz, der über den materiellen Nutzen von Biodiversität hinausgeht.

Klar ist: Die Biodiversität zu schützen, sollte eines der wichtigsten Ziele der Menschheit sein. Doch lässt sich das hohe, aber schwierig fassbare Schutzgut überhaupt messen und zahlenmäßig bewerten? Und was zählt mehr? Die unberührte Landschaft, welche die pure Natur in den Vordergrund stellt, oder die von Menschenhand geschaffene Kulturlandschaft, die in Europa, aber auch in anderen Regionen der Welt als wertvoll und schützenswert gilt. Und welche Auswirkungen hat der Mensch durch sein Wirken und die Produkte, die er hervorbringt, auf die Natur? In seiner Dissertation »Quantitative Darstellung der Wirkungen landnutzender Prozesse auf die Biodiversität in Ökobilanzen« entwickelte Lindner eine Methode, welche die Ökobilanzierung um den wichtigen Part der Biodiversität erweitert. »Für die industrielle Produktion, Handel, Konsum und Entsorgung nutzen wir Land und beeinflussen damit die Biodiversität. Bislang fehlte ein systematischer Ansatz, wie wir diese Einflüsse bewerten und die Umweltwirkungen innerhalb der Ökobilanzierung entlang des gesamten Lebenswegs eines Produktes abbilden können. Die Artendichte allein sagt nur begrenzt etwas darüber aus, wie hoch die Biodiversität ist«, sagt der Nachhaltigkeitsexperte, der sich bereits seit zehn Jahren mit Ökobilanzierung beschäftigt. »Wir wollen Unternehmen und der öffentlichen Hand Instrumente an die Hand geben, mit denen sie die Auswirkungen ihres Handelns auf die biologische Vielfalt erfassen und managen können. Diese Akteure haben ein ureigenes Interesse daran, ihre Produkte und Prozesse ökologisch zu verbessern. Dazu müssen sie jedoch wissen, welchen Hebel sie wo ansetzen sollen, um zu bestmöglichen umweltorientierten Entscheidungen zu kommen«.

Am Beispiel eines Apfelkuchens skizziert Lindner, um welche Auswirkungen auf die Biodiversität entlang ganzer Wertschöpfungsketten es geht. Wieviel Land braucht es für die Erzeugung des Getreides, des Zuckers und der Äpfel, welche Transportmittel werden über welche Distanzen genutzt und welche Energie kommt zum Einsatz, bis der duftende Kuchen aus dem Ofen kommt und wir ihn genießen können? Der Zahlenwert für Biodiversität nach der Methode Lindner setzt sich im Wesentlichen aus zwei Kenngrößen zusammen. Der Regionalfaktor als erste Kenngröße setzt Wirkungen in sogenannten Ökoregionen (nach Olson und dem World Wide Fund for Nature, [1]) zueinander ins Verhältnis und erlaubt damit, bestimmte Wirkungen auf die Biodiversität abzuwägen. In diesen Faktor fließen Informationen zur oder bezüglich der Verteilung von Arten über die Ökoregionen der Welt ein.

Die zweite Kenngröße bezieht sich auf das Vorkommen von Arten und deren Seltenheit in einer bestimmten gegebenen Region. Ungefähr mit zehn Parametern pro Ökoregion charakterisiert Lindner die dortige Biodiversität. Parameter sind beispielsweise Gebietsveränderung durch direkte Eingriffe in Natur und Landschaft, Klimawandel, invasive Arten, Umweltverschmutzung und Krankheiten, oder übermäßige Nutzung natürlicher Ressourcen. Mögliche Einflussgrößen sind die Einbringung von Dünger oder die Entnahme von Biomasse wie Holz. Im nächsten Schritt bestimmt und gewichtet ein Expertenkreis aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Unternehmen und Naturschutz den Beitrag eines jeden Faktors zur lokalen biologischen Vielfalt. All diese Werte packt Lindner in eine Rechenformel. Einflüsse wie Biomasseentnahme, Dünger- und Pestizideinsatz werden anhand von Maxima und Minima abgefragt und beispielsweise mit Werten von Totholzmenge oder -alter gegengerechnet. Erreicht beispielsweise eine Fläche den Wert 0,81 bedeutet dies, die Fläche erreicht 81 von 100 Prozent des dort erreichbaren Biodiversitätspotenzials oder – im Umkehrschluss – durch die Landnutzung entsteht ein Fehlbetrag von 19 Prozent Biodiversität, der als Schaden interpretiert wird.

Aus der Bewertung und Gewichtung vieler Einzelfaktoren setzt sich somit die wissenschaftliche Formel zur Bestimmung der Wirkung auf die Biodiversität zusammen. Jeder Industrieprozess, der in einer bestimmten Region Land beansprucht, ergibt eine Differenz zur Referenzgröße, dem definierten Zustand regionaler maximaler Biodiversität von 100 Prozent. Diese Differenz beschreibt die Wirkung der Prozesse auf die regionale Biodiversität. In Fallstudien erprobt, hinterfragt und verfeinert der Forscher seine Methode und prüft die Praxistauglichkeit im kontinuierlichen Austauschprozess mit Vertretern aus Forstwirtschaft, Bergbau oder Nahrungsmittelindustrie und Naturschutz. »Jetzt müssen wir daran arbeiten, dass das methodische Gerüst internationale Anerkennung findet und dieses quantitative Maß, welches der Komplexität bei einer tolerablen Unschärfe des Themas gerecht wird, Verankerung in der Ökobilanz findet«, fasst Lindner seine Zielsetzung zusammen.

Dieses Dranbleiben am Thema ist wichtig. Lindner hat es geschafft, er kann seine Arbeiten zu Biodiversität und Ökobilanzierung weiterführen. Mit Förderung der Dr. Erich Ritter-Stiftung leitet er derzeit eine Juniorforschungsgruppe, die sich mit »Biodiversitätsbewertung in komplexen Wertschöpfungsketten – BioWert« befasst. Mit Blick in die Zukunft hat Lindner noch weitere Ideen: »Ich könnte mir vorstellen, auf dieser Basis die Lebenszyklusanalyse weiterzuentwickeln und um soziale Aspekte wie Arbeitsbedingungen zu erweitern«. Außerdem ließen sich die gewonnenen Erkenntnisse enger mit der Landschaftsökologie verknüpfen. Alleine das vorhandene Kartenmaterial bietet einen großen Fundus an wertvollem Datenmaterial. Das betriebliche Umweltmanagement von Firmen könnte profitieren, indem Prozessanalysen, Methodenbeschreibungen und Detailbetrachtungen sich nicht nur natur- und umweltfreundlichen sondern auch an biodiversitätserhaltenden Standards orientieren würden.

Die Natur des Planeten Erde hat für uns verschiedene Werte, die wir durch die Nutzung zum Teil massiv beschädigen. Um beurteilen zu können, wie viel wir den Ökosystemen zumuten, in denen wir leben, hat Lindner diese Methode mit der komplexen Struktur erarbeitet. Jede Maßnahme wird unterschiedliche Wirkungen haben, die in ihrer Gesamtheit und als ein sich gegenseitig beeinflussendes Wirkungsgeflecht oft nicht vollständig erfasst und beschrieben werden können. Deshalb sucht Lindner nach konsensfähigen umsetzbaren Lösungen, um die Wirkungen von Produkten, Prozessen und Dienstleistungen auf die biologische Vielfalt zu erfassen und zu quantifizieren. Die Menschen wären oft der Meinung, dass »natürlich immer gut sei«; solche universellen Ethiken seien aber wissenschaftlich nicht haltbar.

Der leidenschaftliche Wissenschaftler Dr.-Ing. Jan Paul Lindner würde aber gerne noch mehr bewirken. »Das Forschungsgebiet der Ökobilanz fasziniert mich, weil an der Grenzfläche zwischen Technik und Philosophie viele neue Ansätze entstehen. In Bezug auf das Schutzgut Biodiversität ist die Nähe der Disziplinen besonders spürbar. Ich bin davon überzeugt, dass unser Wohlstand und unsere Zukunft davon abhängen, wie uns die Vereinbarkeit von technischem Fortschritt mit der Einstellung zur Umwelt gelingt«.
(schw)

Literatur

[1]: Olson, David M., et al. »Terrestrial Ecoregions of the World: A New Map of Life on Earth A new global map of terrestrial ecoregions provides an innovative tool for conserving biodiversity.» BioScience 51.11 (2001): 933-938. http://bioscience.oxfordjournals.org/content/51/11/933.short

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